Mann mit Kopfschmerzen

Seit der Antike haben die Ärzte immer wieder versucht, Kopfschmerzen in verschiedene Entitäten einzuteilen. Auch die modernen Klassifikationen werden beständig überprüft und aktualisiert. Über praxisrelevante Neuerungen in der jüngsten Klassifikation der internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS) informiert der folgende Beitrag.

Die neue Kopfschmerzklassifikation unterscheidet weit über 200 Kopfschmerzerkrankungen.

Im Juni vergangenen Jahres wurde die neue Kopfschmerzklassifikation der International Headache Society (IHS) vorgestellt. Sie knüpft nahtlos an ihre beiden Vorgängerinnen aus den Jahren 1988 (ICHD-1) und 2004 (ICHD-3) an. Vor diesen Klassifikationen gab es keine international verbindliche Klassifikation von Kopfschmerzen, obwohl seit der Antike immer wieder eine Einteilung von Kopfschmerzen versucht worden ist. Bis 1988 wurde meist eine amerikanische Klassifikation aus dem Jahr 1962 verwendet.

 

Prinzipien der Klassifikation

Auch die dritte Edition der Kopfschmerzklassifikation folgt bestimmten Prinzipien, die seit der ersten Edition gelten. So werden die verschiedenen Kopfschmerzerkrankungen in drei Hauptgruppen und einen Forschungsappendix eingeteilt:

  •  Idiopathische Kopfschmerzen
  •  Symptomatische Kopfschmerzen
  • Gesichtsneuralgien und -schmerzen
  •  Appendix mit alternativen Definitionen und mit Kopfschmerzentitäten von noch ungesicherter Evidenz.

Diese Gruppen werden in 14 Kapitel untergliedert (Tab. 1), die wiederum in zahlreiche einzelne Kopfschmerzerkrankungen eingeteilt werden. Die Gliederung erfolgt mit bis zu vier digitalen Stellen. Insgesamt können so weit über 200 verschiedene Kopfschmerzerkrankungen unterschieden werden.

Tabelle 1  Einteilung der Kopfschmerzerkrankungen in Kapitel

Primäre Kopfschmerzerkrankungen

1. Migräne

2. Kopfschmerz vom Spannungstyp

3. Clusterkopfschmerz und andere trigemino-autonome Kopfschmerzen

4. Andere primäre KopfschmerzerkrankungenSekundäre Kopfschmerzerkrankungen

Kopfschmerz zurückzuführen auf …

5. Kopf- und/oder Nackentrauma (z.B. Beschleunigungstrauma)

6. Kraniale oder zervikale vaskuläre Erkrankung (z.B. Blutungen)

7. Nicht-vaskuläre intrakraniale Erkrankung (z.B. Tumor)

8. Substanz oder deren Entzug (z.B. Medikamentenübergebrauch)

9. Infektion (z.B. Meningitis)

10. Erkrankungen der Homöostase (z.B. Blutdruckänderung)

11. Erkrankungen des Schädels, des Nackens, der Augen, der Ohren, der Nase, der Sinus, der Zähne, des Mundes oder anderer fazialer oder kranialer Strukturen

12. Psychiatrische Erkrankungen (z.B. somatoforme Störung)

13. Kraniale Neuralgien und zentrale Ursachen von Gesichtsschmerz

14. Nicht klassifizierbarer Kopfschmerz

Ein weiteres Prinzip ist, dass die Klassifikation der idiopathischen Kopfschmerzen (d. h. der Kopfschmerzen ohne nachweisbare Ursache) phänomenologisch erfolgt. Dies bedeutet, dass die positive Diagnose eines idiopathischen Kopfschmerzes nur anhand von anamnestischen Kriterien gestellt wird. Die obligate klinische Untersuchung und fakultative apparative Zusatzuntersuchungen haben ausschließlich die Aufgabe, symptomatische Kopfschmerzen auszuschließen bzw. nachzuweisen. Es gibt jedoch auch Ausnahmen: So wird erstmals in dem Kapitel der Migräne die sogenannte hemiplegische Migräne nach genetischen Gesichtspunkten klassifiziert.

In der Klassifikation werden Kopfschmerzerkrankungen, nicht aber Patienten klassifiziert. Dies bedeutet auch, dass ein Patient mehr als nur eine Kopfschmerzdiagnose haben kann. Häufigstes Beispiel ist das abwechselnde Auftreten der Migräne und des Kopfschmerzes vom Spannungstyp, dies wird fälschlich auch als Mischkopfschmerz bezeichnet. Konsequenterweise sollte auch vermieden werden, die Patienten als Migräniker o.Ä. zu bezeichnen, sondern es wird empfohlen, die Bezeichnung Patient mit Migräne etc. zu verwenden.

Ein weiteres wichtiges Prinzip ist, dass die Spezifität der Kriterien wichtiger ist als die Sensitivität. Die Kriterien sind so abgefasst, dass es sein kann, dass ein Patient zwar biologisch gesehen eine bestimmte Kopfschmerzerkrankung aufweist, sich dies aber nicht vollständig in den Kriterien abbildet. Ein typisches Beispiel hierfür ist, dass bei einem Patient zwar biologisch gesehen eine Migräneattacke abläuft, diese Attacke aber „nur“ die Kriterien eines Kopfschmerzes vom Spannungstyp erfüllt. Für bestimmte Grenzfälle ist zudem mit der zweiten Edition im Jahr 2004 die Möglichkeit einer „wahrscheinlichen Diagnose“ eingeführt worden, bei der alle Mindestkriterien bis auf eines erfüllt sein müssen. Ziel ist es, möglichst homogene Gruppen von Patienten zu definieren, um die Forschung so aussagekräftig wie möglich zu machen.

Die einzelnen Kopfschmerzerkrankungen sind durch Kriterien nach einem bestimmten Grundschema definiert, das für idiopathische Kopfschmerzen fünf und für symptomatische Kopfschmerzen vier Hauptkriterien vorsieht (vgl. unten stehende Beispiele). Zusätzlich gibt es spezifizierende Anmerkungen zu den Kriterien und erläuternde Kommentare zu den Erkrankungen selbst, sodass die Kopfschmerzklassifikation sogar als eine Art Kopfschmerzlehrbuch gewinnbringend gelesen werden kann.

 

Beispiel: Migräne

In diesem Beitrag kann nicht auf alle Änderungen der Kopfschmerzklassifikation eingegangen werden. Hierzu ist ein detaillierter Beitrag erschienen. Am Beispiel der Migräne als der im Alltag wichtigsten Kopfschmerzerkrankung soll jedoch erläutert werden, wie sich die Weiterentwicklung der Kopfschmerzklassifikation gestaltet hat.

Die Einteilung des Kapitels Migräne in weitere Untereinheiten zeigt Tabelle 2. Die eigentliche Definition des Migränekopfschmerzes hat sich dabei nicht geändert. Hier wird nach den seit Beginn der Klassifikation gültigen Kriterien definiert (siehe Tab. 3). Neu ist die Einteilung der verschiedenen Auraformen. Der Begriff der „Migräne vom Basilaristyp“ ist zugunsten einer „Migräne mit Hirnstammaura“ verlassen worden. Neu ist weiterhin, dass die chronische Migräne nunmehr eine eigenständige Verlaufsform der Migräne geworden ist und ein eigenes Unterkapitel erhalten hat. Die Diagnose einer chronischen Migräne kann jetzt auch, anders als in der zweiten Edition, gestellt werden, wenn ein Medikamentenübergebrauch erfolgt. Schließlich sind auch die verschiedenen Syndrome der Kindheit, die als Vorläufersyndrome der Migräne aufgefasst werden, neu geordnet und erweitert worden.

Tabelle 2  Einteilung des Kapitels 1 (Migräne) in die Unterformen der Migräne

1.1 Migräne ohne Aura

1.2 Migräne mit Aura

1.2.1 Migräne mit typischer Aura

1.2.2 Migräne mit Hirnstammaura

1.2.3 Hemiplegische Migräne

1.2.4 Retinale Migräne

1.3 Chronische Migräne

1.4 Komplikationen der Migräne

1.4.1 Status migränosus

1.4.2 Persistierende Aura ohne Infarkt

1.4.3 Migränöser Infarkt

1.4.4 Anfälle durch Migräne getriggert

1.5 Wahrscheinliche Migräne

1.5.1 Wahrscheinliche Migräne ohne Aura

1.5.2 Wahrscheinliche Migräne mit Aura

1.6 Episodische Syndrome wahrscheinlich assoziiert mit Migräne

1.6.1 Rezidivierende gastrointestinale Störungen

1.6.1.1 Syndrom des zyklischen Erbrechens

1.6.1.2 Abdominelle Migräne

1.6.2 Benigner paroxysmaler Vertigo

1.6.3 Benigner paroxysmaler TortikollisAppendix (Auswahl):

A1.1 Menstruelle Migräne

A1.6.1.3 Infantile Koliken

A1.6.4 Alternierende Hemiplegie der Kindheit

A1.6.5 Vestibuläre Migräne

Tabelle 3  Diagnostische Kriterien der Migräne

A. Wenigstens 5 Attacken entsprechend den unter B–D angeführten Bedingungen.
B. Unbehandelte oder erfolglos behandelte Dauer von 4–72 Stunden.
C. Wenigstens zwei der nachfolgend angeführten Kopfschmerzcharakteristika:

1. einseitiger Kopfschmerz;

2. pulsierender Schmerzcharakter;

3. mäßige bis starke Schmerzintensität, die übliche Tagesaktivitäten erschwert oder unmöglich macht;

4. Verstärkung beim Treppensteigen oder bei üblicher körperlicher Aktivität.D. Während des Kopfschmerzes wenigstens eine der nachfolgend angeführten Begleiterscheinungen:

1. Übelkeit und/oder Erbrechen;

2. Photophobie und Phonophobie.E. Ausschluss eines symptomatischen Kopfschmerzes (durch Vorgeschichte, körperliche und neurologische Untersuchung).

 

In diesem Zusammenhang ist auch erstmals die vestibuläre Migräne als Forschungsdiagnose definiert worden. Hier ist nach langem Meinungsstreit durch Forschungsergebnisse der letzten Jahre immer deutlicher gezeigt worden, dass es eine epidemiologische und pathophysiologische Überschneidung von Migräne und Schwindelsymptomen im engeren Sinne gibt. Ob es sich hier um eine eigenständige Entität als Unterform der Migräne oder um einen Ausdruck von zwei verschiedenen Syndromen aufgrund einer gemeinsamen Pathophysiologie handelt, muss noch genauer herausgearbeitet werden.

Was hat sich sonst geändert?

Beim Kopfschmerz vom Spannungstyp und bei den trigeminoautonomen Kopfschmerzen haben sich keine relevanten Änderungen ergeben. Im Kapitel 4 sind einige weitere Kopfschmerzerkrankungen neu definiert worden, so der Kopfschmerz durch äußeren Druck oder Zug, der Kältekopfschmerz und der Münzkopfschmerz.

Die symptomatischen Kopfschmerzen werden mit der englischen Formulierung „attributed to“ einer Ursache zugeordnet. Neu ist, dass die Diagnose eines symptomatischen Kopfschmerzes auch dann gestellt werden kann, wenn die Ursache (noch) nicht abgestellt worden ist. In den ersten beiden Editionen war es notwendig, zur definitiven Diagnose eines symptomatischen Kopfschmerzes die angenommene Ursache zu beseitigen, bevor die endgültige Diagnose gestellt werden konnte. Die Diagnose folgt letztlich einem standardisierten Schema, das in Tabelle 4 dargestellt ist. Bei einer Vielzahl symptomatischer Kopfschmerzen sind zudem Überarbeitungen der Formulierungen und Kriterien erfolgt, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können.

Bei der Trigeminusneuralgie wird nicht mehr zwischen klassischer (d. h. Gefäß-Nerven-Kontakt) und symptomatischer Form unterschieden, sondern die klassische Trigeminusneuralgie wird jetzt von der neu eingeführten Trigeminusneuropathie abgegrenzt. Hierunter fallen alle Erkrankungen, die zu einer schmerzhaften Neuropathie des N. trigeminus führen, also z. B. auch die verschiedenen herpetischen Formen trigeminaler Schmerzen.

Kopfschmerzen im ICD-11

Die aktuelle Ausgabe der Kopfschmerzklassifikation trägt die Bezeichnung Beta-Version. Damit ist gemeint, dass diese Klassifikation in den nächsten Jahren einer Evaluierung unterzogen werden soll (sog. „field testing“), um dann voraussichtlich im Jahr 2015 als endgültige Version Gültigkeit zu erlangen. Dieses Vorgehen folgt einer Vorgabe der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die für das Jahr 2015 die neue Version der International Classification of Diseases (ICD-11) plant. In diesen ICD-11 soll die Kopfschmerzklassifikation der IHS unverändert als eigenes Unterkapitel innerhalb der Neurologie aufgenommen werden.

Fazit für die Praxis

Mit der dritten Edition der Kopfschmerzklassifikation sind Änderungen in den diagnostischen Kriterien vieler idiopathischer und symptomatischer Kopfschmerzerkrankungen vorgenommen worden, die für die Diagnosestellung im Alltag von Bedeutung sind. Die neue Klassifikation kann im Internet über die Homepage der IHS (www.ihs-headache.org) oder der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (www.dmkg.de) eingesehen werden und sollte ab sofort Grundlage in der Behandlung von Kopfschmerzpatienten sein. (Prof. Dr. med. Dr. phil. Stefan Evers)